Der verdrängte Völkermord an Sinti und Roma
Hugo Höllenreiner berichtete über seine Kindheit im KZ Auschwitz

Bis heute ist der Völkermord der Nationalsozialisten an dem Volk der Sinti und Roma wenig bekannt und weitestgehend verdrängt. Rund 500.000 Menschen fielen diesem Völkermord in ganz Europa zum Opfer. Über ihren Leidenweg und seine eigenen schrecklichen Erlebnisse als Kind einer Sinti Familie in den KZ Auschwitz, Ravensbrück, Mauthausen und Bergen-Belsen berichtete jetzt vor wenigen Tagen Hugo Höllenreiner auf einer gut besuchten Veranstaltung der "Freunde von Valjevo" im "Pfaffelbräu".

Hugo und Familie

Das bild zeigt die Familie Höllenreiner 1941: Mutter Sophie mit ihren 6 kindern. Ganz rechts Hugo.

Hugo Höllenreiner wurde 1933 als Sohn eines Pferdehändlers und Fuhrunternehmers in München geboren. Im selben Jahr kommt Hitler an die Macht. Die Rassentheorie von den deutschen Herrenmenschen, die das Recht hätten, andere Völker zu unterdrücken, auszuplündern und auszurotten, ist ein wichtiger Bestandteil der nationalsozialistischen Kriegsvorbereitung. Schlag auf Schlag werden den Sinti und Roma wie den Juden als "artfremd und fremdrassig" die elementarsten Rechte genommen: 1935 verlieren sie mit den Nürnberger Gesetzen die deutsche Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Läden und der Besuch kultureller Einrichtungen wie Kinos wird ihnen verboten. 1938 werden viele von ihnen Opfer der Progrome in der sogenannten Kristallnacht. Ab Oktober 1939 dürfen Sinti und Roma ihren Wohnsitz nicht mehr verlassen. Am 16. Dezember 1942 folgt dann der Erlaß von Himmler, "Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft .. in einer Aktion von wenigen Wochen in ein Konzentrationslager einzuweisen." Wenige Wochen vorher, am 14. September 1942 hatte Reichsjustizminister Thierack bereits als Ergebnis einer Unterredung mit Goebbels festgehalten: "Hinsichtlich der Vernichtung asozialen Lebens steht Dr. Goebbels auf dem Standpunkt, daß Juden und Zigeuner schlechthin ..vernichtet werden sollen. Der Gedanke der Vernichtung durch Arbeit sei der beste."

Hugo Höllenreiner hat das alles als Kind hautnah erlebt. Es sind grauenhafte Erlebnisse, die sich ihm tief eingeprägt haben und ihn auch heute noch quälen: In der "Kristallnacht" 1938 wird der Pferdestall und der Leiterwagen der Familie Höllenreiner angezündet. Ein Jahr später steht die Familie mit ihren 6 Kindern vor dem Nichts: wie alle anderen Sinti - Familie werden sie enteignet und der Vater zum Militär eingezogen. Im November 1941 folgt seine entwürdigende Entlassung aus der Armee und der Einsatz als Zwangsarbeiter im Strassenbau. "Zigeunermischlinge mit auffälligen Einschlag von Zigeunerblut" sind nicht geeignet für den Wehrdienst, heißt es. Längst sind Sinti und Roma Freiwild für jegliche Übergriffe geworden. Oft Hugo wird von Mitschülern geschlagen und verprügelt. Aus Angst um seine Familie hat ihm der Vater strikt verboten, sich gegen die Prügel von deutschen Schülern zu wehren.

In einer Nacht im März 1943 ist es soweit: Polizisten umstellen das Haus der Familie in München. Mit seinen Eltern und 5 Geschwistern wird der 9 jährige Hugo ins Polizeipräsidium gebracht, von dort in einen Viehwagen gepfercht und in das Konzentrationslager Auschwitz verschleppt. Das "Zigeunerlager" besteht aus 30 Unterkunftsbaracken, die ursprünglich als Pferdeställe gebaut waren ohne Fenster, nur mit Oberlichtern. In diesen "Pferdestallbaracken" waren jeweils 800-1.000 Menschen zusammengepfercht. Die hygienischen Verhältnisse sind nicht zu beschreiben. Am schlimmsten aber ist der Hunger. Es gibt fast nichts zu essen. Tausende sterben an Unterernährung, Krankheiten und den Misshandlungen der SS. Durch die Ritzen der Baracke kann der Junge mit seinen Geschwistern die Rampe sehen, an der Züge mit unzähligen Menschen ankommen und dann oft direkt in die Gaskammern geschickt werden. Sie selbst werden zu "Aufräumarbeiten" eingesetzt: Neuankömmlinge sollen nicht sofort erkennen, dass es sich hier um ein Vernichtungslager handelt.

Zuständiger Arzt für das "Zigeunerlager" ist Josef Mengele, der sterilisiert und berüchtigt ist für seine bestialischen Menschenversuche. Zu ihm muß auch Hugo Höllenreiner mit seinem 2 Jahre älteren Bruder Manfred: " Ich wurde auf einen Holzbock gebunden und meine Beine weit gespreizt. Sie schnallten meinen Kopf fest, damit ich nicht sehen konnte, was er da unter trieb."

Im Mai 1944 beschließt die Lagerleitung, das "Zigeunerlager" aufzulösen und alle Insassen umzubringen. Es soll Platz für ungarische Juden geschaffen werden. Die Sinti und Roma erfahren davon. Sie sind bereit ihr Leben und ihre Familien mit Pickel, Knüppel und Messer zu verteidigen. Als sie für den Abtransport in die Gaskammern aus ihren Baracken herauskommen sollen, weigern sie sich. Hugos Vater ist Blockältester und schreit: "Wir kommen nicht raus! Kommt ihr rein! Wenn ihr etwas wollt, müsst ihr schon reinkommen!" Ihre Weigerung hat Erfolg. Die SS gibt ihr Vorhaben auf. Um ihre Familien zu retten, melden sich 1500 Sinti, darunter Hugo Höllenreiners Vater und sein 2 Jahre älterer Bruder "freiwillig" zur SS Truppe Dierlewanger. In den letzten Kriegswochen werden die meisten von ihnen noch skrupellos als Kanonenfutter verheizt. Ihnen hatte man zugesagt, ihre Familien würden freikommen. Tatsächlich aber wird Hugo mit Mutter und Schwester zuerst in das KZ Ravensbrück, dann nach Mauthausen und schließlich im März 1945 noch nach Bergen Belsen deportiert. Dieses Lager war für Hugo Höllenreiner das Schlimmste: "Es gab nichts mehr zu Essen und Trinken. Überall waren nur Berge von Leichen zu sehen". Ein Häftling gibt ihm den Hinweis: "Wenn die Toten die Hände zusammengekrallt haben, ist meistens etwas drin". Die Hand eines Toten zu öffnen, ist schwer. Hunger und Verzweiflung aber, weiß Höllenreiner zu erzählen, geben enorme Kraft. "Manchmal fanden wir so ein Stück Brot oder eine Mohrrübe", Am 15. April 1945 wird Hugo Höllenreiner mit seiner Mutter und Schwester von englischen Truppen in Bergen Belsen befreit. Nie vergessen wird er den Augenblick, als er aus Lautsprechern die Durchsage hört: "You are free, ihr seid frei!"

Viele Jahre hat Hugo Höllenreiner, der mittlerweile seit 50 Jahren in Ingolstadt lebt, über seine Erlebnisse in den Konzentrationslagern geschwiegen. Ein Grund dafür waren die Diffamierungen, denen die Sinti und Roma auch nach dem Krieg noch ausgesetzt waren. Diese Vorurteile haben lange Zeit die Aufarbeitung des Völkermords an den Sinti und Roma und eine Wiedergutmachung behindert, wie Bernd Duschner am Ende der Veranstaltung betonte und beispielhaft mit dem Runderlass E 19 des Finanzministers von Baden-Würtemberg vom Februar 1950 an die Wiedergutmachungsbehörden belegte. Darin heißt es : " Die Prüfung der Wiedergutmachungsberechtigung der Zigeuner und Zigeunermischlinge hat zu dem Ergebnis geführt, daß der genannte Personenkreis überwiegend nicht aus rassistischen Gründen, sondern wegen seiner asozialen und kriminellen Haltung verfolgt und inhaftiert worden ist. Aus diesem Grund ordnen wir hiermit an, daß Wiedergutmachungsanträge von Zigeunern und Zigeunermischlingen zunächst dem Landesamt für Kriminalerkennungsdienst in Stuttgart zugeleitet werden." (vgl. R.Rose, Bürgerrechte 1987, S 47. ff.).

Die Lebensgeschichte von Hugo Höllenreiner anzuhören, ist nicht leicht. Sie macht betroffen, verfolgt seine Zuhörer noch lange Stunden. Eines aber hat Hugo Höllenreiner an diesen Abend bei seinem Publikum mit Sicherheit erreicht: eine größere Sensibilität gegen jede Form von Ausgrenzung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Ende August erscheint im Hanser Verlag das Buch "Denk nicht, wir bleiben hier. Die Lebensgeschichte des Hugo Höllenreiner" von Anja Tunckermann.