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Ein Besuch im Land seiner Kindheit

Ulli Wandersleb-Münst und sein Urlaub 2019 am Seliger See in den Waldai–Höhen Russlands

Vor 80 Jahren, genau am 22. Juni 1941, überfiel das nationalsozialistische Deutschland die damalige Sowjetunion. Dieser Krieg hat den Lebenslauf des heute fast 78 jährige Pfaffenhofener Ulli Wandersleb – Münst stark beeinflusst. 1943 in Dessau in Sachsen-Anhalt geboren, besuchte er nach der Zwangsumsiedelung nach Russland die Grundschule im russischen Uprawlentschenski Gorodok, einem Städtchen in der Nähe von Samara. Er machte sein Abitur in Kairo, studierte in Berlin und verbrachte sein Berufsleben als Ingenieur bei verschiedenen Industrieunternehmen in Bayern. Bei uns in Pfaffenhofen ist Ulli vor allem für sein unermüdliches soziales und friedenspolitisches Engagement bekannt, als Gründer und langjähriger Leiter des örtlichen Mietervereines, seine Mitarbeit Werkstatt-Cafe im Mehrgenerationenhaus (MGH) und bei den „Freunden von Valjevo“. Die Verständigung mit Russland, wo er sieben Jahre seiner Kindheit verbracht hat, ist Ulli Wandersleb-Münst ein besonders wichtiges Anliegen. Im Juli 2019 hat er mit seiner Frau und zwei seiner erwachsenen Söhne das Land nochmals besucht.

In einem Lokal in der Moskauer Fußgängerzone

DIE ZWANGSUMSIEDLUNG NACH RUSSLAND

Die Schrecken des Krieges hat die Bevölkerung von Dessau in Sachsen-Anhalt, wo Ulli Wandersleb im September 1943 geboren wurde, intensiv zu spüren bekommen. Die britische Luftwaffe hatte die Stadt, Sitz wichtiger Rüstungsbetriebe wie der Junkerswerke, in den beiden letzten Kriegsjahren wiederholt mit Brand- und Sprengbomben bombardiert. Hunderte von Menschen waren dabei ums Leben gekommen und die Innenstadt wurde zum größten Teil zerstört. Bei dem Flugzeughersteller Junkers waren Ulli`s Eltern seit 1938 beschäftigt, der Vater als Metallograph und Materialprüfingenieur, seine Mutter als Bürokraft. Der Krieg war bereits über ein Jahr zu Ende, als die Familie in der Nacht vom 21. zum 22. Oktober 1946, gegen 4 Uhr morgens, durch heftiges Klingeln und Klopfen aus dem Schlaf geschreckt wurde. Bewaffnete russische Soldaten, so Ulli`s Mutter Frieda Wandersleb in ihren Notizen, betraten die Wohnung und teilten der Familie mit, die Junkers-Werke würden in die Sowjetunion verlegt. Als Fachkräfte müssten sie mitkommen, um das Werk dort wieder aufzubauen. Weitere Russen erschienen und hatten in kürze die gesamte Wohnungseinrichtung verladen. Nach einer 10 tägigen Zugreise traf Familie Wandersleb mit ihren beiden Kindern, dem damals 3 jährigen Ulli und der 11 jährigen Renate, mit vielen anderen Familien des Werkes am Bestimmungsort Uprawlentscheski Gorodok, einem kleinen Ort bei Samara an der Wolga, ein. Dort wurde ihnen zunächst nur ein einziges Zimmer einer Vier–Zimmer–Wohnung zugewiesen. Die Küche hatten sie mit drei anderen Familien zu teilen. Eine der Kälte im russischen Winter entsprechende Kleidung hatten sie nicht mitgebracht. Wie den Wanderslebs war es in dieser Nacht mehreren Tausend Wissenschaftlern, Ingenieuren und Technikern und ihren Familienangehörigen in der sowjetischen Besatzungszone gegangen. Angesichts der gewaltigen Zerstörungen und Menschenverluste, die die Sowjetunion im 2. Weltkrieg erlitten hatte, und ihrer Furcht vor einer kommenden Konfrontation mit den westlichen Siegermächten war die sowjetische Regierung bestrebt, deutsche Technologie und Expertenwissen für den Wiederaufbau ihres Landes zu nutzen.

ALS DEUTSCHE IN RUSSLAND 1946-53

Ulli mit seiner Schwester beim Schwimmen

Die ersten Jahre, als auch die sowjetische Bevölkerung große Not litt, waren für die Familien der deutschen Fachkräfte schwer, auch wenn sie, wie Ulli`s Schwester Renate Wandersleb in ihrer Biographie schreibt, bei der Versorgung mit Lebensmittelkarten besser als die einheimische Bevölkerung gestellt wurden. Ihr Vater, der in seiner Jugend zunächst eine Ausbildung als Friseur gemacht hatte, verdiente sich nach der Arbeit noch mit dem Haarschneiden deutscher Kollegen ein Zubrot, ihre Mutter mit Näharbeiten. Renate übernahm bald das Kochen für die Familie und kümmerte sich neben der Schule um ihren kleinen Bruder Ulli. Im „Klub der Werktätigen“ berichtet sie, organisierten die Deutschen Feste und Kinoveranstaltungen mit alten Filmen der Ufa. Als junges Mädchen genoss sie im Sommer das Schwimmen mit Freunden in der Wolga und im Winter das Skilaufen in der „herrlich verschneiten Umgebung“. Ulli begeisterte sich mehr für die üppige Natur: Mäuse, Frösche, Eidechsen und Schlangen, Libellen und Hirschkäfern, Insekten und anderem Getier in der wärmeren Zeit, und im Winter baute er gern mit Freunden Höhlen in den einige Meter hohen Schnee um den Steinhäusern.

Bereits 1948 durften weniger qualifizierte Deutsche nach Hause zurückkehren. Diejenigen, die in Russland zurückbleiben mussten, waren bitter enttäuscht. Wenn sie gefragt wurden, wann sie zurückkehren dürfen, gaben sie alle die gleiche Antwort: „Morgen vielleicht, ganz bestimmt!“ Es war geradezu ein „geflügeltes Wort“.

Im Frühjahr 1953 konnten wieder viele der Deutschen in ihre Heimat zurückkehren. Familie Wandersleb aber musste mit anderen als wichtig erachteten Fachkräften auf die Insel Gorodomlyja auf dem nordwestlich von Moskau gelegenen Seliger See umziehen. Dort erhielten sie eine schöne Wohnung. In den Betrieben auf Gorodomlyia wurde an der Weiterentwicklung ballistischer Flüssigkeitsraketen gearbeitet. Auf dieser Insel gab es einen kleinen See, ein russisches Dorf und viel Wald mit einer Überfülle an Himbeeren, Blaubeeren und Preiselbeeren. Für größere Einkäufe fuhr man mit der Fähre aufs Festland zur Stadt Ostaschkow. Für Ulli war das halbe Jahr auf Gorodomlyja, wie er sagt, die schönste Zeit seiner Kindheit. Gerne erzählt er die Geschichte von seinem ersten eigenen „Haustier“, das er hier erhielt. Als er einmal am Steg angelte, kam ein russischer Bauer mit einem Kahn voller Gänse an. Ulli hat ihm eine Gans abgekauft. Das Tier brachte er unterm Arm nach Hause und sein Vater baute auf dem Balkon ein Gatter. Groß war die Aufregung, als sich die Gans eines Tages befreien konnte und mit lautem Geschrei wegflog. Wenige Tage später informierte ein Bauer die Familie, dass er die Gans gehört habe. Sie habe sich im Schilf des Sees mit ihrer Fussleine verhängt. Renate und Ulli befreiten die Gans und brachten sie wieder nach Hause. Ihre Mutter aber hatte wenig Verständnis für das „Haustier“ und ließ es trotz des Protestes der Kinder schlachten. Von diesem Gänsebraten haben weder Ulli noch seine Schwester einen Bissen gegessen. Ende 1953 durfte die Familie endlich nach Deutschland zurückkehren, Vater Wandersleb sogar erst im Juni 1954. 1960 geht er gemeinsam mit einem Team aus Ingenieuren, die alle mit ihm in Russland gearbeitet hatten, nach Ägypten, um für die Regierung Gamal Abdel Nasser Flugzeug – Triebwerke zu bauen. So kommt es, dass Ulli sein Abitur in Kairo ablegt, mit einer respektablen „2“ in Arabisch.

BEKOMMEN DIE DEUTSCHEN INGENIEURE EIN MUSEUM ?

Bier und Wurst aus Deutschland für den Bootsfahrer

Bei seiner Urlaubsreise 2019 wollte Ulli Wandersleb – Münst seiner Familie neben den Sehenswürdigkeiten von Petersburg und Moskau auch den Seligersee und „seine“ Insel Gorodomlyja zeigen. Sie reisten zur Stadt Ostaschkow. Von hier hoffte Ulli, mit einem Boot zur Insel übersetzen zu können. Vor Ort erhielt er jedoch die Auskunft, dass sich auf der Insel Werke der russischen Weltraumorganisation Roskosmos befinden und sie deshalb für Touristen gesperrt sei. Ulli erzählte bei den Behörden seine Geschichte und bat um eine Sondergenehmigung. Bald darauf bekam er einen Anruf von einem Jewgenii Silkin, einem Ethnografen. Sie trafen sich und Herr Silkin berichtete, dass eine Russin, die auf der Insel tätig ist, Dokumente und Erfahrungsberichte von Deutschen zusammenstellt, die einst auf Gorodomlya gearbeitet haben. Das Ziel sei ein Museum. Mit einem kleinen Motorboot brachte er die Familie Wandersleb–Münst zu einer Sandbank der Insel, die von den Einheimischen gerne zum Badeaufenthalt im Sommer genutzt wird. So konnte die Familie zumindest diesen schmalen, vielleicht zweihundert Meter langen Ausläufer der Insel bis zu den Sperranlagen betreten. Der Kontakt zu E. Silkin besteht bis heute weiter.

Der Krieg, den das nationalsozialistische Deutschland mit dem Überfall auf Russland vor 80 Jahren am 22. Juni begann, war kein herkömmlicher Krieg, wie Ulli Wandersleb betont. Es sei ein Vernichtungskrieg gegen die als „rassisch minderwertig“ diffamierte russische Bevölkerung gewesen, mit dem Ziel, das Land auszuplündern, das Leben von Millionen seiner Bürger auszulöschen und so neuen Lebensraum für deutsche Ansiedler zu schaffen. Es sei erstaunlich, so Ulli, wie herzlich, gastfreundlich und ohne Vorurteile deutsche Besucher heute trotzdem in Russland aufgenommen werden. Wir alle, meint er, müssen dafür sorgen, dass es nie mehr zu einem Krieg zwischen unseren beiden Völkern kommt